Petra Marsico
Physiotherapeutin & Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Kinder-Reha Schweiz
Am Neuroortho-Symposium in München durfte ich gemeinsam mit Lena Braun eine Session zu «Out of the Box Yoga & mentale Gesundheit» gestalten. Weil mir dieses Thema besonders am Herzen liegt, möchte ich heute einen Teil davon mit dir teilen.
Mentale Gesundheit – ein oft unterschätzter Teil der Therapie
Wusstest du, dass Kinder mit Cerebralparese ein deutlich erhöhtes Risiko für psychische Belastungen haben? Studien von Bjorgaas und Kolleg:innen zeigen, dass sich viele psychische Störungen über mehrere Jahre entwickeln – und klassische Screenings oft nicht ausreichen, um sie frühzeitig zu erkennen.1
In den letzten Jahren hat die Forschung klar gemacht: Mentale Gesundheit ist eng mit sozialer Teilhabe und körperlicher Aktivität verknüpft. Bewegungsprogramme wirken nicht nur auf Muskulatur, Gelenke und Ausdauer – sie fördern Freundschaften, Selbstwert und allgemeines Wohlbefinden.
Paulus zeigte 2019 etwa, dass Freundschaften eine enorme Schutzfunktion haben: Kinder, die soziale Kontakte pflegen, entwickeln deutlich weniger depressive Symptome und Angststörungen.2 Doch oft ist das genau ein Punkt, der für Kinder mit einer Behinderung fehlt oder nicht ausreichend möglich ist. Mentale Gesundheit ist also multidimensional – Körper, Geist und soziales Umfeld sind untrennbar verbunden.
Interozeption – der oft vergessene Sinn
Ein zentraler Baustein in der therapeutischen Begleitung ist die Interozeption. Sie beschreibt das innere Spüren des eigenen Körpers: Muskelspannung, Herzschlag, Atemrhythmus, Verdauung, kleinste Veränderungen im Gewebe. Neben schnell leitenden Fasern spielt auch ein System langsam leitender, nicht-myelinisierter C-Afferenzen eine Rolle, die besonders auf sanfte Berührungen reagieren – der sogenannte affektive Tastsinn.3,4 Die Interozeption gehört zu den somatosensorsichen Funktionen und ist neben den exterozeptiven und propriozeptiven Sinneswahrnehmungen die Grundlage für unsere Körperwahrnehmung.5

Das Bio-Psycho-Soziale Modell – ganz konkret
Ein Junge, 16 Jahre alt, kommt seit fünf Jahren regelmässig zu mir in die Therapie. Viele sehen in ihm ein «einfaches» Therapiekind: immer fröhlich, macht alles mit. Doch schon zu Beginn fallen mir die Narben an seinem Handrücken auf. Seine Mutter erzählt, dass er sich beisst, wenn ihn emotionale Ereignisse überfordern. Abschiede und Veränderungen haben seinen jungen Lebensweg stark geprägt.
Mir wird schnell klar: Er braucht in der Physiotherapie eine konstante Bezugsperson. Also arbeiten wir – neben den aktiven Bewegungssequenzen – stetig daran, seinen Körper zu spüren, An- und Entspannung wahrzunehmen, Atem und Emotionen miteinander zu verknüpfen. Es braucht Zeit, Geduld und viele Wiederholungen. Doch nach und nach beginnt er, kleine Übungen in seinen Alltag zu integrieren. Er kann Körperreaktionen früher deuten, seine Gefühle bessersortieren und Momente der Überforderung regulieren. Genau hier wird das Bio-Psycho-Soziale Modell lebendig: Er übernimmt Verantwortung für sich selbst– von innen heraus.

Was sagt die Forschung zu Achtsamkeit bei Cerebralparese?
Eine aktuelle Übersichtsarbeit von Tedeschi (2024) zeigt, dass Achtsamkeitsinterventionen bei Menschen mit Cerebralparese durchaus vielversprechend sind – etwa hinsichtlich Aufmerksamkeit, Stimmungsregulation und Stressbewältigung. Doch die Literatur ist noch dünn: Nur drei Studienerfüllten die Einschlusskriterien. Das heisst, wir brauchen dringend mehr Forschung, um Achtsamkeitsinterventionen und deren Wirkung zu untersuchen und diese gezielt in der Therapie einsetzen zu.6
Atmung als Tor zur Emotion und Selbstregulation
Atemübungen spielen in vielen Therapien eine tragende Rolle. Perciavalle und Telles zeigen, dass tiefe, bewusste Atmung Angst und Stress reduziert und gleichzeitig die Konzentration verbessert.7 Dahinter steckt erneut Interozeption: Kinder lernen, innere Signale wie Herzschlag, Atmung oder Muskelspannung wahrzunehmen und damit ihre Emotionen zu steuern. Studien von Berntson, Khalsa und Craig verdeutlichen, wie essenziell dieses Körperbewusstsein für die emotionale Selbstregulation ist.3,8
Wenn wir als Therapeut:innen diesen Bereich bewusst ansprechen, öffnet das die Türe für eine noch ganzheitlichere Begleitung – egal ob in intensiven Therapieeinheiten oder in der langfristigen Versorgung.
Zum Abschluss
Ich wünsche dir eine achtsame Adventszeit – und vielleicht einen Moment der Ruhe, um einmal tief durchzuatmen.

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Quellenangaben